Während die meisten Adeligen ihre Anwesen außerhalb der Londoner Stadttore bauen ließen um dem geschäftigen treiben zu entgehen, ließen es sich einige nicht nehmen für den Fall der Fälle auch eine Stadtresidenz zu haben. Diese alte und weniger prunkvolle Stadtvilla gehört rechtmäßig Krom Liddel - seines Zeichens ein englischer Graf und Ehemann von Noémi Liddel. Als Spica Neumagen ihr Heimatland vor knapp vier Jahren verließ, erhielt sie das recht ihrer Tante Noémi in eben dieser Villa wohnen zu dürfen.
Neben Fräulein Spica Neumagen lebt in diesem Gebäude nur noch ihre Magd Cordelia Altrich. Es gibt ein riesiges Schlafzimmer im obersten Stock für das junge Fräulein und eine Bedienstetenkammer hinter der Küche im Erdgeschoss, die Cordelia als ihr eigenes Reich bezeichnen kann. Neben einem großzügigen Bad, einem großen Speisesaal und dem Salon, dem Arbeitszimmer und einigen weiteren, bedeutend kleineren Zimmern, verfügt das Haus noch über einen großen Keller, der allerdings nur als Abstellkammer und Lager genutzt wird. Das Auto des jungen Fräuleins – ein wahrer Blickfang - steht vor dem Haus und ist dank der Nachtwachen auch sicher vor Diebstählen.

Ein Morgen im Hause Neumagen lief jedes Mal gleich ab. Cordelia brachte dem jungen Fräulein das Frühstück ans Bett - jeden Tag ein neues Gericht aus einer anderen Nation -, kleidete sie nach dem Mahl ein und besprach mit ihr den Terminkalender. Entweder Wiederwillig oder zur Abwechslung einmal pflichtbewusst machte sie das junge Fräulein dann an die Arbeit und während sie sich im Arbeitszimmer zurückzog, bereitete Cordelia in der Küche das Mittagessen vor, putzte das Haus oder arrangierte alles für kommenden Besuch. Heute sollten die beiden - wie so oft - den ganzen Tag alleine verbringen. Niemand hatte sich angekündigt und der Lehrplan sah nur eine kurze Geschichtsstunde für Fräulein Spica vor. Für eine Persönlichkeit, die sich in der Öffentlichkeit Rang und Namen erarbeitet hatte, ein recht trister, eintöniger Tag, aber über die Ruhe, dir ihr gegönnt wurde, sollte sie sich nicht beschweren.

Während Cordelia in der Küche den Nachtisch - eine kleine Preiselbeeren-Torte - Verzierte und vollendete, kochte der weilen das Hauptgericht vor sich hin und auch die Vorspeise wartete nur noch auf ein letztes Abschmecken. Es war erst zehn Uhr, aber da das junge Fräulein heute nur noch eine Unterrichtseinheit erwartete, dass ihre Magd beschlossen die Mahlzeit vorzuziehen und den Unterricht auf eine weitere Stunde auszuweiten. Wegen der vielen Aufträge der vergangenen Wochen hatte sie ihre Lehrstunden fast gänzlich auslassen müssen. Mit ihrer Französisch-Lektion lag sie ganze Wochen hinter dem Zeitplan und der geplante Tanzunterricht wurde ebenfalls wieder abgesagt. Dabei würde das junge Fräulein in Zukunft solche allgemeinen Gepflogenheiten der oberen Bevölkerungsschicht verinnerlichen müssen, damit sie den Erwartungen und dem Druck, der auf ihr lag nicht nachgeben würde.

Cordelia drapierte die letzte Beere in der Mitte der Torte und würzte die fertige Suppe mit einigen Kräutern, bevor sie das fertige Mittagessen im Speisesaal aufreihte. Das junge Fräulein hatte sich schon wenige Minuten zuvor eingefunden und wartete - ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen - schon ungeduldig.
"Lassen sie es sich schmecken, meine Dame.", meinte Cordelia und lächelte so, wie es sich für eine Magd gehörte. Sie entfernte die Hauben von den Tabletts und stellte sich mit einigem Abstand zu ihrer Herrin neben die Tür zur Küche. Sie selbst wurde ihre Mahlzeit zur gewohnten Zeit einnehmen, sollten die Unterrichtsstunden sich nicht in die Länge ziehen. Zeitgleich mit ihrer Herrin würde sie nie zu Messer und Gabel greifen, das war einfach undenkbar in ihrer Position. Etwas anderes wäre es, wenn Miss Anthares derzeitig über ihren Körper verfügen würde. Das junge Fräulein würde nicht zögern ihre geliebte Schwester am Mahl teilhaben zu lassen, aber nur um solch dreckigen Menschen-Fraß in sich schaufeln zu können, würde sie garantiert nicht ihre Position verlassen. Cordelia war ja keine Spinnerin.